Daran arbeite ich gerade

Daran arbeite ich gerade:

Die Spur der Tränen“ ist der Arbeitstitel meines neuen Manuskripts, das mich gerade beschäftigt. Hier eine kleine Leseprobe:

 

»Ich schließe das Fenster und gehe zur Anrichte. Betrachte das Honigglas. Auf der Anzeige der Mikrowelle vergeht eine Minute. Es ist an der Zeit, einen weiteren Schritt zu tun. Der Deckel lässt sich leichter drehen, als ich erwartete.

Möglicherweise hat Amrhein auch dieses Glas schon vor mir geöffnet. Augenblicklich strömt mir der unvergleichliche Duft des Bienenprodukts in die Nase. Zwei Atemzüge lang befällt mich ein Schwindel, gepaart mit einer Ahnung, dass ich nicht mehr allein im Raum bin. Meine Hände zittern und ich fühle eine kalte Hand, die sanft mein Herz berührt. Ich stelle das Glas auf die Küchenzeile zurück und lege den Deckel daneben. Einen Impuls folgend drehe ich mich um, aber die ist niemand. Mich überkommt der irrsinnige Gedanke, dass Ann-Kathrins Seele gerade durch meinen Körper gewandert ist. Ich habe sie aus dem Honigglas befreit wie einen Flaschengeist und sie konnte entweichen. Und nun habe ich drei Wünsche frei.

Im Kühlschrank steht ein offener Weißwein. Blanc de Noir. Ich reiße den Korken heraus und trinke direkt aus der Flasche, um die Absurdität aus meinem Schädel zu bekommen. Nach vier kräftigen Zügen hört das Zittern auf, aber der Geist von Amrheins verschwundener Tochter ist immer noch in meinem Kopf. Ist einfach nur ein Stück zur Seite gerutscht, um dem Alkohol Platz zu machen, auf dem mein Gehirn jetzt aufschwimmt.

Ohne weiter darüber nachzudenken, tauche ich den Zeigefinger in die klebrige Masse und lutsche sie von der Fingerkuppe. Ich weiß nicht was ich erwartet habe. Es ist Honig, aber das Aroma ist berauschend. Ich schließe die Augen, um mich voll auf den zähen Brei auf meiner Zunge zu konzentrieren. Er schmeckt süß, aber diese Süße transportiert ein ungeahntes Bouquet, das meine Sinne verwirrt. Das Bild einer saftigen, in tausend Farben blühenden Bergwiese flimmert vor meinen Augen. Sonnenüberstrahlt und von einem azurblauen Himmel überzogen, breitet sie sich vor mir aus.

Zieht sich hinab in ein geschwungenes Tal, umringt von hohen Gipfeln im Weichzeichnerdunst. Die Vorstellung grenzt an eine Illusion. Erstmals seit Afrika empfange ich einen Tagtraum, der mich mit Geborgenheit umgibt und mir nicht heißen Wüstensand ins Gesicht bläst, der mir die Haut vom Schädel schmirgelt. Ich spüre den Ansatz eines Lächelns auf meinen Lippen, eine Sekunde, in der ich mich beseelt fühle, doch dann erblicke ich eine schwarze Stelle im kniehohen Wiesengras. Dort wirft etwas einen dunklen Schatten, ohne das es selbst körperlich ist. Etwas, was nicht hingehört, in dieses sonst perfekte Bergidyll und das verhindert, dass ich alles sehen kann, was sich auf dieser Wiese befindet. Ein blinder Fleck, wie ein Schwarzes Loch, dessen übermächtige Gravitation alles Sonnenlicht absorbiert. Die Schönheit der Bergwiese verblasst, je länger ich in die Dunkelheit starre. Viel zu spät bemerke ich die Furcht, die mir von dort entgegenströmt.

Sie schlängelt sich wie bedrohlicher, rußiger Rauch den Berg hoch und lässt dabei alles verwelken, was sie berührt. Mit der Erkenntnis packt mich das Entsetzen. Vertreibt dieses wunderbare, befreiende Gefühl, das mich kurzzeitig tröstend in den Arm nahm. Ich kann mich nicht bewegen, um mich abzuwenden und muss mit ansehen, wie die schwarze Angst meine Beine erreicht, mich einhüllt bis hoch zur Hüfte und mein Blut gefrieren lässt. Jemand stößt einen markerschütternden Schrei aus und ich schaffe es endlich, die Augen zu öffnen.

Der Schrei kommt aus meiner Kehle. Mein Mund steht offen und der mit Speichel vermengte Honig läuft mir übers Kinn und tropft auf mein Hemd. Meine Knie sind weich und ich sacke benommen gegen den Kühlschrank.«